Im Oktober 2024 erschien das folgende Interview im Magazin „Ausguck“ der IHK Kiel. Viel Spaß beim Lesen. Unter der Überschrift „Krisensicher und gesund“ geht es hierin insbesondere um die Bedeutung der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz, die Herausforderungen aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten in diesem Bereich.
Juliana Wiechert ist Diplompsychologin und war lange Zeit akademisch und in der Personalentwicklung tätig. Mit ihrem Unternehmen Palstek GmbH hat sie sich im Präventions- und Krisenmanagement für Unternehmen selbstständig gemacht und das Thema „Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz“ zu ihrem Fokus erklärt. Als „Kopfmensch mit Löwenherz“ bezeichnet sie sich selbst und berichtet im Interview von ihrer Arbeit als Zuhörerin, Krisenmanagerin, Macherin.
Frau Wiechert, was machen Sie genau – und für wen?
Einfach formuliert: Mein Team und ich sorgen dafür, dass Führungskräfte und Mitarbeitende produktiv, gesund und zufrieden arbeiten können. Um das zu erreichen, arbeite ich direkt mit den Führungskräften oder einzelnen Teams, manchmal aber auch mit der gesamten Belegschaft. Oft komme ich mit Unternehmen über die gesetzlich verpflichtende Gefährdungsbeurteilung in Kontakt. Diese Beurteilung beschreibt, welchen relevanten Gefährdungen die Beschäftigten eines Unternehmens im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit ausgesetzt sein können. Ich starte gerne mit dieser Analyse, weil sie einem Unternehmen einen soliden Status Quo vermittelt und sich davon ausgehend bereits Maßnahmen ableiten lassen. Aktuell begleiten mein Team und ich Dienstleistungsunternehmen und unterstützen bspw. Steuer- und Anwaltskanzleien; daneben sind wir auch verstärkt im Bildungssektor aktiv. Was wir tun ist allerdings auf alle Branchen anwendbar.
Welche Herausforderungen haben Führungskräfte und Teams oft am Arbeitsplatz?
Oft haben wir eine sehr ähnliche Ausgangslage: Eine Führungskraft oder ein Team benötigt Lösungen, weil die Krankheitsrate steigt oder Teammitglieder in Wiedereingliederungsmaßnahmen sind. Andere erfahren eine hohe multifaktorielle Belastung am Arbeitsplatz. Hinzu kommt die schnell fortschreitende Digitalisierung, die neue Anforderungen mit sich bringt, und gleichzeitig einen viel höheren Entscheidungs- und Einflussrahmen auf vielen Positionen erlaubt. Unsere Arbeitswelt ist deutlich schnelllebiger als noch vor 20 Jahren. Dass Menschen vor diesem Hintergrund mit mehr Belastungen kämpfen, hat nichts damit zu tun, dass sie weniger leistungsfähig sind, sondern dass sie neue Strategien im Umgang mit den sich verändernden Anforderungen benötigen.
Wie sieht dann ein klassischer Begleitungsprozess aus?
Den klassischen Prozess gibt es nicht. Jeder Kunde hat einen unterschiedlichen Bedarf und braucht somit unterschiedliche Lösungswege. Ich höre mir zunächst den Wunsch eines Kunden an, ehe ich mir mein eigenes Bild mache. Sind die Wünsche wirklich realistisch? Wie identifizieren wir das Problemfeld, um zur Lösung zu kommen? Mit diesen Leitgedanken kann ich einen Maßnahmenplan entwickeln, um mit dem Kunden die nächsten Schritte anzugehen. Gesündere, zufriedenere und gleichzeitig leistungsfähigere Führungskräfte und Mitarbeitende habe ich nur, wenn ihr Arbeitsplatz entsprechendes fördert. Welche Verhaltensweisen sind dem zuträglich, welche nicht? Was bedeutet Selbstfürsorge für jedes Teammitglied? Welche Verhältnisse müssen wir anpassen? Wo müssen Aufgabenbereiche klarer werden? Das Team oder die Führungskraft finden so beispielsweise viel schneller heraus, wie sie zu besseren und schnelleren Entscheidungen gelangen, Fehler reduzieren oder besser kommunizieren. Aber auch, wie sie persönlich mit Ärger, Sorgen, Ängsten oder Schlafproblemen umgehen können – also mit den häufigsten persönlichen Stressoren. Sie lernen, diese frühzeitig zu erkennen und finden ihre individuellen Bewältigungsstrategien.
Gilt der Fokus ausschließlich dem, was nicht gut läuft?
Natürlich sehen wir uns auch auch an, was bereits sehr gut funktioniert und bestärken Teams darin ihre gemeinsamen Ressourcen bewusst zu nutzen. Wichtig ist allerdings auch zu erkennen: vulnerabel sind oft die Menschen, für die der Beruf Berufung bedeutet. Sie haben eine hohe intrinsische Motivation und Identifikation mit dem Unternehmen, sie gehen die Extrameile, liefern tolle Ergebnisse. Dadurch machen sie sich aber verletzlich, weil sie als Resultat oft über die eigenen Grenzen hinweggehen. Auch diese Hochmotivierten müssen lernen, sich zu distanzieren, um leistungsfähig zu bleiben – und zwar dauerhaft.
Ist die Wahrnehmung für mentale Gesundheit in der Wirtschaft stärker geworden?
In meiner Wahrnehmung ist die Aufmerksamkeit für das Thema höher geworden. Grundsätzlich müssen wir uns aber alle notgedrungen damit auseinandersetzen, denn die Krankenkassenstatistik zeigt, dass der Großteil der Krankentage von Arbeitnehmern auf psychische Erkrankungen zurückgeht. Dieser Teil ist wesentlich höher als zum Beispiel chronische Erkrankungen oder gar Krebsleiden. Vor dem zunehmenden Fachkräftemangel bedeutet das, dass Unternehmen gut daran tun, sich um die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden und Führungskräfte zu kümmern. Andernfalls ist der wirtschaftliche Schaden immens – und die Kosten sind deutlich höher als das präventive Investment in Programme wie unsere.
Welche Voraussetzung müssen Unternehmen mitbringen, die mit Ihnen arbeiten wollen?
Wir brauchen eine Kultur des aufmerksamen und fördernden Miteinanders. Will ein Unternehmen nur eine kurze Analyse ohne die Absicht damit zu arbeiten, sind wir nicht der richtige Partner. Es braucht Veränderungsbereitschaft im Sinne der mentalen Gesundheit. Wird dieser erste Schritt bereitwillig gemacht, müssen zwingend weitere Schritte folgen. Wer den zweiten und dritten Schritt nach einer Analyse nämlich nicht macht, sorgt für noch größeren Schaden.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Belegschaft weiß, dass wir eine Analyse gemacht haben und daraufhin nicht gehandelt wurde, dann wäre das grob fahrlässig. Es vermittelt die Botschaft: Ihr seid es uns nicht wert, wir wissen, dass es euch mit bestimmten Punkten nicht gut geht, aber es ist uns egal. Das macht etwas mit der Unternehmenskultur und stört das gesamte Miteinander.
Was macht Ihnen am meisten Freude bei Ihrer Arbeit?
Ich ziehe am meisten daraus, Veränderungen zu begleiten, auch wenn sie anstrengend sein können. Wenn ich das persönliche Wachstum von Führungskräften sehe, die bereit sind, gemeinsam etwas auszuprobieren, erfüllt mich das. Nach einem Prozess stehe ich glücklichen, befreiten, motivierten Menschen gegenüber, die in die Selbstwirksamkeit gekommen sind. Das ist eine sehr motivierende und bereichernde Tätigkeit für mich.
Hat Sie ein Kunde schon einmal nachhaltig beeindruckt?
Sehr. Eine Führungskraft kam zu mir ins Erstgespräch mit dem Ziel: Ich will die 60 Jahre ohne Herzinfarkt schaffen. Am Ende der Begleitung, in der ich ihm viele Methoden mitgeben konnte, um mit seinem Stress umzugehen, hat er sich so weit entwickelt, dass er vor allen anderen Führungskräften offen sagte, dass er allen empfiehlt, Unterstützung anzunehmen und nicht so lange zu warten wie er selbst. Aber die schönste Rückmeldung kam von seiner Tochter. Sie sagte zu ihm: Du bist ein deutlich besserer Papa geworden und ich verbringe endlich wieder gerne Zeit mit dir. Diese Lebensqualität, die der Kunde zurückgewonnen hat! Seine Familie spiegelte ihm zurück, dass sie einander wieder viel näher sind. Das hat mich ungemein beeindruckt und bereichert.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Eine andere Führungskraft brauchte eine Veränderung in der Arbeitsgestaltung. Es ist wichtig, Aufgaben über den Tag hirngerecht zu clustern, damit wir gut arbeiten und leben können. Nur dann schaffen wir mehr, erleben eine erfüllende Freizeit und erholsamen Schlaf. Ich durfte außerdem vor kurzem mit einem Team arbeiten, dass die höchsten Ausfallzeiten und im Vergleich eine schlechtere Performance hatte, als der restliche Unternehmensdurchschnitt. Wir haben viel am Thema Selbstfürsorge und Teamresilienz gearbeitet, ohne die Leistung in den Mittelpunkt zu stellen. Trotzdem ist der Krankenstand drastisch gesunken und das Team zeigt überdurchschnittliche Ergebnisse. Aus meiner Sicht ist das ein klares win-win für die Menschen und das Unternehmensziel.
Sie befassen sich auch intensiv mit Krisenmanagement. Worum geht es hier konkret?
Innerhalb von Krisen kann man sehr ressourcenorientiert arbeiten. Dafür brauchen wir aber eine gute Vorbereitung auf verschiedene Szenarien. Jedes Unternehmen muss anhand einer Risikomatrix betrachten, was ein Risiko sein könnte, und zwar bezogen auf innere und äußere Risiken.
Und brauche ich dann einen Plan für jedes mögliche Risiko?
Niemand kann sich auf alle Fälle detailliert vorbereiten, aber wir können die Grundlage dafür schaffen, wie wir in einer Krise reagieren, wie wir Betroffene schützen und natürlich auch, wie wir nach einer Krise weitermachen. Aus psychologischer Sicht tragen Führungskräfte eine ethische Verantwortung für alle Mitarbeiter. Und wenn eine Krise gemeinsam bewältigt wurde, können daraus auch sehr viel positives Commitment und Gemeinschaftsgefühl entstehen.
Bei all diesen Themen, die oft sicher nicht leicht zu verdauen sind: Wie halten Sie sich selbst mental gesund und wie grenzen Sie sich von „harten Fällen“ ab?
Als Psychologin musste ich mich bereits in meinem Studium mit vielen eigenen Facetten auseinandersetzten und habe mir mit den Jahren gute Bewältigungsstrategien angeeignet. Diese nehme ich zu Hause auch sehr ernst. Ich habe ein Umfeld, das mir einen sehr positiven Ausgleich gibt und in dem wir offen und transparent kommunizieren. Außerdem spüre ich meine Grenzen gut und bin bemüht sie zu schützen, also nie dagegen, sondern wenn überhaupt damit zu arbeiten. Wenn nötig, dann nehme ich mir auch meine kompletten Auszeiten. Ich habe wirklich eine breite Toolbox an Möglichkeiten zur Kompensation, denn alles, was ich anderen an Methoden rate, habe ich selbst ausprobiert. Ich öffne also die Palette und biete an, auszuprobieren, bis wir das gefunden haben, was mit meinem Gegenüber resoniert.
Weil Veränderung sicher auch bei Ihnen immer wieder Thema ist: Wie wollen Sie die Palstek GmbH weiterentwickeln?
Weiter ausbauen möchte ich, was wir tun: Beratungen systematisieren, maßgeschneiderte Angebote machen und eine Toolbox entwickeln, damit wir schneller und zeitunabhängiger helfen können. Konkret meine ich zum Beispiel ein videobasiertes Training, das vor dem Gruppenprogramm reines Wissen vermittelt. Anschließend können wir direkt ins persönliche Programm einsteigen.
Erschienen im Oktober 2024